24.04.2016
Spannende Entdeckungen im Reich der Töne
PeterTölke
Die Wittener Kammermusiktage begrüßten Gäste aus aller Welt. Die erlebten Ungewöhnliches vom Konzert im Help-Kiosk bis zur Untermalung eines Stummfilms. Seit Gründung der „Wittener Tage für neue Kammermusik“, deren Wurzeln als „Wittener Musiktage“ bereits auf das Jahr 1936 zurückgehen, zog es junge Komponisten immer wieder in die Ruhrstadt, um dem Publikum ihre Vorstellungen von der Musik der Zukunft vorzustellen. Denn kein anderes Musikfestival zeigt kompositorisches Schaffens der orchestralen und instrumentalen Musik so zeitnah und deutlich wie dieses Festival.
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Ein Musikereignis der besonderen Art gab es im Ruhrgymnasium. Hier wurde der Stummfilm „Schatten“ (1923) mit Fritz Kortner gezeigt. Das Eifersuchtsdrama gewann durch die unterlegte Musik von Johannes Kalitzke enorm an Wucht und Dramatik. Elf Musiker entfachten ein Feuerwerk an Gefühlen. Wer bisher nicht verstanden hat, was zeitgenössische Musik leisten kann, erlebte ein eindrucksvolles Beispiel. Die Kammermusiktage endeten am Sonntagabend, u. a. mit einem Auftritt des WDR-Sinfonieorchesters.
19.02.2016
Musiktheaterkritik
Seefahrt – Seelenfahrt
von Detlef Brandenburg
Johannes Kalitzke: Pym
Premiere: 18.02.2016 (Uraufführung) Theater und Orchester Heidelberg
Regie: Johann Kresnik
Musikalische Leitung: Elias Grandy
Autor der Vorlage: Edgar Allan Poe
Wohin soll die Reise denn gehen? In seinem 1838 erschienenen Roman „The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket“ bemüht sich Edgar Allan Poe, diese Frage mit ernst vorgetragener Pseudoexaktheit zu beantworten. So eine Fiktion von authentischer Seriosität war fester Bestandteil der bereits im 18. Jahrhundert – seit ein gewisser Robinson Crusoe auf einer einsamen Insel strandete – sehr angesagten Seeabenteuer-Romane. Und wie auch in Melvilles 13 Jahre nach Poes kühnem Kolportageroman entstandenem Walfang-Epos „Moby Dick“ geht die Fahrt von der sagenumwobenen Walfängerinsel Nantucket aus gen Süden: Der junge Titelheld, zunächst als blinder Passagier in einer düsteren Kiste eingeschlossen, übersteht mit seinen Freunden Augustus und Peters eine blutige Meuterei und einen wilden Sturm, wird von dem Handelsschiff „Jane Guy“ aus höchster Not errettet und von schwarzen Wilden in einen Hinterhalt gelockt, entkommt gemeinsam mit Peters erneut mit knapper Not, um schließlich mit seinem Boot in einem „Malstrom“ ans Ende der Welt getrieben zu werden, wo ihm eine rätselhafte weiße Gestalt begegnet.
Auf den ersten Blick liest sich der Text wie andere Seefahrer-Romane des 19. Jahrhunderts auch. Doch der wahre Weg dieses Titelhelden ist nicht auf der Seekarte, sondern auf der Seelenkarte verzeichnet. Er führt in die Tiefen und Untiefen der menschlichen Psyche mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Grausamkeiten. Diese innere Welt allerdings will Poe, anders als die äußere, keineswegs exakt vermessen, sondern dem Leser vielmehr in ihrer unermesslichen Ungeheuerlichkeit möglichst suggestiv vors innere Auge stellen. Inwieweit das gelingt, ist in der Rezeption des Romans aus guten Gründen umstritten. Allzu willkürlich rafft der Autor Schauereffekt auf Schauereffekt, allzu wild vermengt er Meeresbrausen und Mythenrauschen, Seemannsgarn und Symbolismus. Deshalb ist es schon mal eine beachtliche Tat, dass der Komponist Johannes Kalitzke und sein Librettist Christoph Klimke für die jetzt am Theater Heidelberg uraufgeführte Oper „Pym“ eine dramaturgisch vergleichsweise stringente Form gefunden haben. Auch sie beginnt zwar mit Entermesser schwingender Meuterei. Aber das ist nur ein Sprungbrett, von dem aus sich die musikdramatische Handlung emporfedert in immer entlegenere symbolische Regionen. Klimke stützt diese Regionen ab durch in die Handlung eingezogene lyrische Texte von Walter Benjamin und Fernando Pessoa. Und Kalitzke beglaubigt sie durch eine von handfester Lautmalerei (etwa die Sturmmusik des Beginns) in immer surrealere Verfremdungsklänge ausgreifende Musik.
Dieser Klangkosmos ist auch deshalb so faszinierend, weil sich die Fremdheit immer wieder aus verfremdeten Anklängen traditioneller Musikformen herausschält. Immer klingt auch das mit, als dessen Anderes sie erscheinen soll: eine barocke Chaconne; eine wildromantische Toccata; eine Berceuse (die unversehens in das kannibalistische Abschlachten eines Kameraden mündet). Außerdem gibt Kalitzke mit durchaus raffiniertem Pragmatismus der Oper, was der Oper ist: Das Melos der Singstimmen entwickelt er mit expressiv-kantablem Gestus aus dem emotionalen Zustand der Figur, während der vielschichtige, durch Samplerklänge verfremdend angereicherte Orchestersatz (Live-Elektronik: Andreas Breitscheid) und ein Vokalquartett den unmittelbar dramatischen Gesang mit einer Aura von Bedeutung umgeben. So wie der Gesang der Solisten in dieser Klangumgebung quasi seiner eigenen Interpretation begegnet, so begegnet die Seele des Pym am Ende der Welt in der „Weißen Gestalt“ ihrer eigenen Wahrheit. Die Flucht in die Fremde führt zurück in die Abgründe des Ich – man denkt unwillkürlich an Kubricks „Space Odyssey“.
Johann Kresnik, der 76-jährige Altmeister aller Regie- und Tanzberserkerei neueren Datums, hat bei der Uraufführung am Theater Heidelberg für diese Selbstbegegnung der Seele des weit gereisten Pym aus Nantucket leider kein überzeugendes Bild gefunden. Aber welche erlittenen Schrecknisse ihn fort treiben aus jener nur scheinbar heimeligen Welt, in der einst sein Geburtstag gefeiert wurde und er glücklich war „und noch niemand gestorben“ (Libretto) – das macht Kresnik mit beklemmender Dringlichkeit anschaulich. Es ist ein Trauma aus der Vergangenheit, ungreifbar, aber mächtig, irgend etwas, was im zugestoßen sein muss. Schon die Puppen in schwarzen Abendanzügen im ersten Bild, zwischen denen Pym wie wahnsinnig herumirrt und deren Köpfe baumeln wie die Häupter von Gehenkten, verweisen auf diese Vergangenheit. Sie sind die Dämonen, die ihm dann – in Kresniks von sexualisierter Gewalt aufgeladenen Choreographien nackter blauer Körper – auch auf See immer wieder begegnen, wenn die entfesselte Natur zum Spiegel seiner Traumata wird.
Hier, bei den Tableaus und Konfrontationen der Körper in den abstrakt-bewegten, von Ralf Kabrhel effektvoll ausgeleuchteten Tuchlandschaften der Bühnenbildnerin Marion Eisele, hat Kresniks Inszenierungs-Choreographie wirklich starke Momente. Wobei der anekdotische Realismus von Erika Landertingers Kostümen mit ihren Knopfleisten-Westen, Matrosenkrägen und bunt gefiederten „Wilden“ die Abstraktheit der Bilder nicht immer glücklich konterkariert. Auf seine Weise verliert sich aber auch Kresnik gern mal selbstverliebt in den eigenen Mitteln und tritt dadurch auf der Stelle, statt seinen Deutungsansatz zu vertiefen. Im Finale erinnert die erratisch aufgerichtete Sockelfigur der „Weißen Gestalt“ mit ihren blendend ausgebreiteten Tuchflügeln dann zwar an Benjamins im Libretto mehrfach anklingende Engelssymbolik. Aber statt des Sturzes in die Seelentiefe bietet sie letztlich doch nur ein Theatereffekt. Die im Programmheft angesprochene und auch in der Partitur verzeichnete Steuerung des Klangs mittels Kinekt-Bewegungssensoren konnte ich in dieser Szene übrigens nicht identifizieren.
Die musikalischen Leistungen sind durchweg exzellent, woran Elias Grandy, der junge Generalmusikdirektor des Hauses, einen großen, ja, vielleicht sogar den größten Anteil hat. Grandy hat sich offenbar genau klargemacht, worauf es bei Kalitzkes Musik ankommt: nicht auf das Herauskitzeln von Effekten, sondern auf die wohldisponierte Organisation des rhythmischen und dynamischen Ablaufs. Diese Musik funktioniert in sich perfekt. Und Grandy sorgt durch schlagtechnisch bestens gesteuerte Präzision und aufmerksame Sängerführung dafür, dass sie ihre innere Struktur optimal entfalten kann. Der Countertenor Kangim Justin Kim interpretiert die Partie das Pym maßstabsetzend, es ist eigentlich schier unglaublich, dass ein Haus wie Heidelberg einen solchen Sänger im Ensemble hat. Aber auch der klar konturierte, dunkel und markant timbrierte Augustus des Baritons Ipca Ramanovic und der bassmarkig-herbe Peters des Baritons Wilfried Staber machen ihre Sache hervorragend. Und selbst mittlere Partien wie der dunkle, dabei enorm agile und flexible Tenor Namwon Huh in der Partie der „Weißen Gestalt“ sind absolut hochklassig besetzt.
Und nervenstark sind sie auch in Heidelberg. Bei der Premiere senkte sich nach etwa zehn Minuten unvermutet der Vorhang über das Geschehen, die Musik brach ab, weil die Live-Elektronik ihren Geist aufgegeben hatte. Also Reset und noch mal von vorn das Ganze – die Heidelberger Opernkünstler ließen sich dadurch aber keineswegs in ihrer emphatischen Interpretation von Kalitzkes Partitur irremachen und hielten Kurs auf ihrer Seefahrt, zur Begeisterung des Publikums, das die Uraufführung animiert beklatschte.
10.10.2012
Kalitzke, Johannes - Die Besessenen
Doppelbödiges Musiktheater
Neos veröffentlicht den spannenden Uraufführungsmitschnitt von Johannes Kalitzkes Oper 'Die Besessenen'.
Johannes Kalitzes vieraktige Oper 'Die Besessenen' (2008/09), als bislang vierte Arbeit des Komponisten für die Opernbühne im Februar 2010 im Theater an der Wien uraufgeführt, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Witold Gombrowicz. [...]
Klimkes bisweilen fast holzschnittartige Reduktion bietet die idealen Voraussetzungen für Kalitzke, dessen spezieller musikalischer Zugriff gerade jene Zwischentöne und Schattierungen beisteuert, auf die der Librettist verzichtet hat. So erweist sich der Komponist als Meister subtiler und doppelbödiger Charakterzeichnung, reagiert mit einer Vielzahl formaler Gestalten (etwa Hoquetus, Toccata oder Choral) und stilistischer Allusionen (beispielsweise an populäre Musik und Walzerklänge) auf die ausgedünnten Dialoge und schafft dadurch ein wechselvolles instrumentales Panorama, dem auf vokaler Ebene eine abwechslungsreiche Führung der Singstimmen entspricht. [...]
Als Dirigent der vorliegenden Veröffentlichung aus dem Hause Neos, Mitschnitt der Uraufführungsproduktion, erweist sich Kalitzke zudem als idealer Anwalt seines eigenen Werkes und fördert immer wieder das Unbequeme der Partitur hervor: Dank der exzellenten musikalischen Leistungen des Klangforums Wien ist die Umsetzung der instrumentalen Schicht enorm plastisch geraten. [...]
Wie sich die vokalen und instrumentalen Leistungen zu einer schlüssigen Gesamterscheinung zusammenfügen, die am Ende in eine klanglich denaturierte Rückkehr des Beginns mündet, in der sich die klangliche Substanz der Musik zu glasartigen Klängen verflüchtigt, ist ganz klar eine Hörempfehlung wert.
Dr. Stefan Drees
Interpretation: ★★★★
Klangqualität: ★★★★★
Repertoirewert: ★★★★★
Booklet: ★★★★
25.02.2010
Das Leben ist eine Endlosschleife
Supermarkt der Illusionen: Johannes Kalitzkes packende Oper „Die Besessenen“ inszeniert den Spuk und den Aberglauben als Kehrseite der kapitalistischen Warenwelt. Sie bildet den vielversprechenden Auftakt zur neuen Uraufführungsserie im Theater an der Wien.
Die Welt als Supermarkt: Das mag manchem als ein allzu planes Bild wohlfeiler Kapitalismuskritik erscheinen – und verfehlt in diesem Fall doch auf der Opernbühne seine Wirkung nicht. Denn was Johannes Kalitzke in seiner neuesten Oper „Die Besessenen“ aus dem 1939 entstandenen gleichnamigen Roman von Witold Gombrowicz an differenzierter Gesellschaftskritik herausgelesen hat, das nimmt der szenischen Metapher ihre Plattheit. Der ungewöhnlich dichten, formenreichen und prägnanten Komposition ist es zu verdanken, dass die Kulisse, die Steffen Aarfing für Kaspar Holtens Inszenierung am Theater an der Wien geschaffen hat, als Abbild einer im Innersten entfremdeten, pervertierten und sich letztlich selbst zerstörenden Sozialität funktioniert.
In dieser Welt der egomanischen Reduziertheit und der zähnebleckenden Geheimheit regieren Kunstlicht, sterile Sauberheit, eine junge Blondine an der Kasse und Regale voll anheimelnder Surrogate erfüllter Beziehungen: prall gefüllte Picknickkörbe für den harmonischen Familienausflug, edle Weine für das Tête-á-tête mit dem Liebsten. Noch bevor der erste Ton erklingt, flanieren die Kunden durch den Laden, wippt der verklemmte Filialleiter wichtigtuerisch auf seinen Zehen, lässt die Blondine die Kasse klingeln und irrt ein heruntergekommenener greiser Adliger durch die ihm fremde Welt labyrinthischer Verkaufsgänge. Erst nach ein paar Minuten realisiert man, dass sich die Abläufe wiederholen. Das Leben ist eine Endlosschleife: genauso öde und so hermetisch wie dieser Bühnenraum, zu dem es kein wirkliches Außen zu geben scheint.
Die Figuren der Romanhandlung sind in Christoph Klimkes stark gerafftem Libretto eindeutiger gezeichnet als in der Vorlage. Doch die Musik schenkt ihnen alles an Zwischentönen zurück, was die szenische Einrichtung des Textes opfern muss. Alle jagen sie in rücksichtsloser Besessenheit ihrem vermeintlichen Glück hinterher – oder dem, was sie für einen Ausweg aus den mechanisierten Abläufen eines nur auf Wettbewerb und Mehrwert ausgerichteten Lebens halten. Die Ladeninhaberin Ocholowska hat nichts im Sinn, als aus der Jugend ihrer an der Kasse sitzenden Tochter Maja (Hendrickje van Kerckhove) so viel Geld wie möglich zu schlagen. Dafür soll diese zunächst den Filialleiter Cholawicki (Leigh Melrose) heiraten, der es selber auf die Gemäldesammlung des alten Fürsten abgesehen hat. Als das scheitert, verhökert die Mutter die Tochter kurzerhand an einen reichen Lustgreis, der jedoch, von wem auch immer, bald erdrosselt wird.
Maja erscheint als eine auf ihr eigenes Klischee reduzierte Schwester der Lulu: eine pure Projektionsfläche, wandelndes Reklamebild des Lebens, nach dem alle gieren und von dem doch niemand weiß, worin es besteht. Sie wirft sich ihrem Tennislehrer Leszczuk (Benjamin Hulett) an den Hals, der als geheimnisvoller Fremder mit schwarzem Motorradhelm die Szene betritt. Beide liefern sich – weit über den kalten, berührungslosen Wettbewerb leidenschaftlicher Tennismatche hinaus – eine Serie von Schlagabtauschen, die sie für Erotik halten. Doch letztlich können auch sie von nichts anderem träumen als vom Besitz der fürstlichen Gemäldesammlung. Anders als der erbschleicherisch auf den Tod des Alten wartende, feige Cholawicki aber suchen sie das Abenteuer und wollen die Kunstschätze rauben.
Auf dem Dachboden des Schlosses, hier: in der oberhalb des Verkaufsraumes gelegenen, undurchsichtigen Landschaft aus Gebälk und Belüftungsschächten, wohnt der greise Fürst (der Countertenor Jochen Kowalski), der mit seiner Gemäldesammlung das kulturelle Erbe symbolisiert. Um dessen Zukunft scheint es schlecht bestellt – ist doch der uneheliche Sohn des Fürsten auf mysteriöse Weise verschwunden, seitdem der Fürst ihn verleugnet hat. Im chaotischen Supermarkt-Oberstübchen blüht als Kehrseite der Verdinglichung der Aberglaube. Es spukt. Ein mörderisches Handtuch treibt angeblich sein Unwesen und zieht die psychotischen Ängste sämtlicher Figuren auf sich.
Cholawicki etwa versetzt es in ein hochexaltiertes, beinahe wozzeckhaft erregtes Sprechgesang-Arioso, dessen intensiver Ausdruck die Figur musikalisch weit über die ihr sonst gesetzten Begrenzungen hinauswachsen lässt. Ähnlich schillert auch in den Duetten von Leszczuk und Maja der Ausdruck raffiniert zwischen Erfüllung und Parodie. Zwar vereinen beide sich stimmlich erstmals ausgiebig in einem durch Vierteltöne verzerrten „Choral der Gier“ (Kalitzke); doch schimmert gleichsam als Wunschtraum noch eine verbeulte Tonalität hindurch. Den geliehen wirkenden Gesten dieses Liebesduetts ist nicht zu trauen. Selbst der geliehene Ausdruck aber enthält noch Glückspotential, einen Funken Utopie.
Die Partitur der „Besessenen“ ist in ihrer Formenvielfalt, ihrer dicht verzahnten Gestaltenfülle so überbordend wie das Leben, dem die Figuren so ahnungs- wie besinnungslos hinterherjagen. Allusionen an alte Formen wie Hoquetus, Toccata und Choral wechseln mit schrägen Walzern, brachialen Schlagzeugausbrüchen, „verstimmt“ klingenden Keybordklängen, U-Musik-Einsprengseln, irrwitzigen Steigerungen und lethargischen Delirien. Trotzdem klingt diese explosive Musik – vom souveränen Klangforum Wien unter Kalitzkes eigener Leitung interpretiert – stilistisch wie aus einem Guss und vermittelt den Eindruck einer in kleinsten Übergängen motivisch vollzogenen, stringenten Entwicklung.
Hört man genauer hin, merkt man, dass dies eine raffiniert inszenierte Illusion ist. Kalitzke komponiert mit einem System kleinster Zellen, die immer wieder neu sortiert und permutiert werden, ohne sich tatsächlich im Sinne motivischer Entwicklung zu verändern. So wie sich die Figuren der Oper, ihren gewaltsamen Ausbruchsversuchen zum Trotz, nirgendwo hinbewegen, ist auch die Großform der vier Akte als eine Kreisbewegung angelegt: Das Ende stellt eine gestauchte und im Klang denaturierte Reprise des Anfangs dar. Eine kluge, suggestive und substantielle Produktion, wie man sie nicht alle Tage zu hören bekommt und die neugierig macht auf die weiteren Uraufführungen, die ab sofort jährlich am innovativen Theater an der Wien geplant sind.
24.02.2008
Kalitzke, Johannes - Vier Toteninseln für Orchester mit zwei Solisten
Suggestiv und anrührend
Das Label Kairos widmet dem Komponisten Johannes Kalitzke eine neue CD-Produktion mit zwei sehr unterschiedlichen Werken.
Als Dirigent ist Johannes Kalitzke eine weithin gefragte Interpretenpersönlichkeit, die sich mit akribischer Lektüre und sorgfältiger Probenarbeit dem Schaffen von Zeitgenossen anzunehmen versteht. Dass er darüber hinaus jedoch auch als Komponist eine wichtige Größe im zeitgenössischen Musikbetrieb bildet, geht hinter der öffentlichen Wirkung dieser Dirigententätigkeit gelegentlich verloren. Das österreichische Label Kairos würdigt Kalitzkes Schaffen nun mit einer CD-Produktion, die zwei gewichtige Kompositionen jüngeren Datums enthält: die ‚Vier Toteninseln’ für Orchester mit zwei Solisten (2002/03) und die ‚Six covered settings’ für Streichquartett (1999/2000). [...]
Schon allein für die ‚Six covered settings’ lohnt sich die Anschaffung der CD, denn bislang war das Werk nur auf einer nicht offiziell im Handel erhältlichen Dokumentation des WDR mit einem Mitschnitt der Uraufführung durch das Arditti String Quartet von den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2000 zugänglich. [...]
Das Salzburger Stadler Quartett, dessen Mitglieder zugleich auch dem renommierten Österreichischen Ensemble für Neue Musik angehören, überzeugt mit einer Wiedergabe, die den musikalischen Nuancen dieser diffizilen Komposition vollauf gerecht wird: Mit exzellentem Zusammenspiel und differenzierter Klangfarbenzeichnung spüren die Musiker den Umschwüngen der Musik nach, die sich vor allem in der ständigen Verschiebung von Vorder- und Hintergrund äußern. [...]
Auch die ‚Vier Toteninseln’ machen dieses Spiel mit Tradition zu ihrem Gegenstand. Hier ist es die konkrete Vorlage der ‚Vier ernsten Gesänge’ op. 121 von Johannes Brahms, die Kalitzke als Grundlage einer Übermalung nutzt, so dass das Original gelegentlich unter den neuen Texturen aufblitzt. [...]
Die Suggestivität dieser Musik, hinter der sich eine zutiefst persönliche Reflexion über die häufig verdrängte Realität des Todes in unserer Gesellschaft verbirgt, ist einfach großartig. Hier liegt – und dazu tragen auch die beiden Werkkommentare des Komponisten sowie ein Interview mit Produzent Peter Oswald im Booklet bei – nicht nur einfach eine empfehlenswerte Platte, sondern eine Veröffentlichung mit zutiefst anrührender zeitgenössischer Musik vor, die es verdient, häufiger gespielt und gehört zu werden.
Dr. Stefan Drees
Interpretation: ★★★★★
Klangqualität: ★★★★
Repertoirewert: ★★★★★
Booklet: ★★★★
Ausgabe: 7/05 - 54. Jahrgang
Die Hölle, das ist ein schwarzes Vergnügen
Johannes Kalitzkes Oper „Inferno“ nach Peter Weiss in Bremen uraufgeführt
Schon oft wurde in Bezug auf neues Musiktheater über die Frage von vertonter Literatur auf der einen Seite, von abstrakten Sujets auf der anderen diskutiert. Jetzt legte Johannes Kalitzke in Bremen eine Oper über ein erst 2003 aus dem Nachlass von Peter Weiss veröffentlichtes Manuskript mit dem Titel Inferno (nach Dante) vor. Die Hölle, das ist die Gesellschaft von Upperclass zwischen Smalltalk und Wellness, unterfüttert von Schlägern, Folterern und Henkern. [...]
Als „Schwarze Show“ charakterisiert Kalitzke sein Stück „Inferno“. Wirklich gelang es ihm, einen musikalischen Ton zu entwickeln, der beinhart klar daherkommt, der zwischen Tänzen, Marsch und Choral, als seien sie Showeinlagen, changiert, der aber zugleich das Falsche des Tons hellhörig einfängt und integriert. Denn verdreht ist hier alles: Das Harmlose ist das Grauen, das Unverbindliche der Todesstoß, das grelle Äußere erzählt vom wüsten und leeren Innen. So ist auch die Musik. [...]
Der Text in der kantigen Sprache des Polittheaters der 60er-Jahre wurde von Kalitzke ins Jetzt geholt und zugleich in seiner Brisanz erhalten.
Dem hatten Regie und Bühnenbild (David Mouchtar-Samorei, Heinz Hauser) wenig hinzuzufügen, und das taten sie anständig. Leicht wäre es, dieses Sujet bizarr zu überzeichnen, doch man setzte auf klare, eindeutige Konturen, auf das einfache Sprechen der Bilder. Das tat wohl, wie auch die ganze Ensembleleitung und die behutsam plastische Führung der Musik durch den jungen Dirigenten Stefan Klingele. Neues Musiktheater hat mit dieser Bremer Aufführung einen entscheidenden Schritt ins Neuland getan.
Reinhard Schulz